„Die Zukunft, mein Kind, kommt schneller als du denkst“, sagte der alte Mann an der Bar.

Ich war geflüchtet von einer langweiligen Familienfeier im Nebenraum. Der Mann freute sich über das junge Gesicht neben sich und lud mich ein zu Apfelsaft im Schnapsglas. Ich genoss die Aufmerksamkeit und das Abenteuer. Ich war noch nie an einer Bar gesessen. Allein die hohen Barhocker waren aufregend. Lauter alte Männer um mich. Der eine war besonders nett, der, der mich zum Trinken einlud. Er erzählte von der Zukunft, die noch vor mir läge. Was weiß er schon? Für mich gab es keine Zukunft damals, nur die Gegenwart. Selbst das Morgen war so weit weg. Was weiß ich denn schon, was in ein paar Jahren sein wird? Die Zukunft wird sich ergeben, damals machte sie mir noch keine Angst. Das kam erst später.

„Du hast die Zukunft noch vor dir, liebes Kind.“ Klar, jeder hat die Zukunft noch vor sich. Das hat die Zukunft so an sich. Der Mann sprach über sein Leben, was alles schief lief und worauf ich achten müsse. „Was willst du denn mal werden?“, beendete er seinen Monolog. „Ich werde nicht, ich bin.“, antwortete ich. „Schlaues Kind. Aber du wirst dich noch wundern.“ „Ich möchte nichts werden.“, versuchte ich ihn aufzumuntern. „Jeder muss was werden“, meinte er, „und je früher du dir darüber Gedanken machst, desto besser.“ Wir stoßen miteinander an, er mit Schnaps, ich mit Apfelsaft.

In dem Moment kam meine Mutter in den Raum. Sie sah mich an der Bar sitzen mit einem älteren fremden Mann, wir hatten beide Schnapsgläser in der Hand und prosteten uns zu. Sie zerrte mich weg, von der Bar, vom fremden Mann. Sie wusste nicht, was geschehen war. Sie wusste nicht, dass ich Apfelsaft im Glas hatte. Sie dachte das Schlimmste.

Ich hatte den Nachtisch des Familienmenüs verpasst und war sauer. Wenn sie mich schon wegholen von meinem Abenteuer, dann doch bitte so, dass ich auch noch vom Nachtisch was abbekomme.

Ich wollte wieder in die Bar. Und als ich endlich mich der Familie entziehen konnte, war die Bar leer. Ich war enttäuscht. Ich hatte mich so erwachsen und ernstgenommen gefühlt. Wie konnte der Mann einfach so gehen? Hatte er Angst vor meiner Mutter?

Auch heute noch muss ich immer mal wieder an den Mann denken. Ich sehe ihn noch vor mir. Mein Leben verlief nicht geradlinig. Hätte ich bloss besser auf den Mann gehört, der bestimmt nicht so alt war, wie ich ihn in Erinnerung habe. Über meine Zukunft mache ich mir immer noch keine Gedanken, über die des Mannes schon.